Die Kategorie der Freiheit

Im Tagesspiegel vom 1. Juni 2021 erschien der Kommentar von Malte Lehming „Mit Davidstern in der Palästinenser-Demo: Nicht alles, was erlaubt ist, ist auch klug“. Dieser Kommentar bewegte mich zu dieser persönlichen Replik:

Was ich im Tagesspiegel lese, ist eine große persönliche Enttäuschung. „Persönlich“ nicht, weil ich den Autor persönlich verurteile. „Persönlich“, weil ich – wie 200.000 andere Jüdinnen und Juden – vor 30 Jahren „persönlich“ entschieden habe, Deutschland zu meiner Zukunft zu machen. Viele von uns fragen sich nunmehr, ob das ein Irrtum war.

Warum Deutschland, lautet die übliche Frage. Weil wir überzeugt waren, dass wir, gerade wegen der Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft mit ihrer Geschichte, hier als Juden frei leben könnten. Nicht frei von Antisemitismus (lasst uns realistisch bleiben!), aber frei von Kompromissen. Von Kompromissen, die dir deine Gesellschaft wegen deiner Herkunft auferlegt. Mit Kompromissen bin ich in der UdSSR aufgewachsen: Du kannst dich Jude nennen, aber du sollst nicht demonstrativ jüdisch sein. Du kannst dich Jude nennen, aber du musst besser sein als alle anderen, damit du genauso weit kommst. Besser, aber unausgesprochen besser. Unauffällig besser sein! In Deutschland, so nahmen wir es damals an, wird es anders sein. Nicht wegen weniger Antisemiten, sondern wegen mehr Haltung.

Mit diesem Text bröckeln die letzten Hoffnungen auf Haltung und somit auf die freie jüdische Zukunft in diesem Land. Dieser Text ist das erste öffentliche Anzeichen für das Stockholm-Syndrom, das unsere Gesellschaft gegenüber Antisemiten hier langsam aber sicher entwickelt.

Klug oder unklug ist keine Kategorie der Freiheit. Riskant oder nicht riskant ist die richtige Kategorie. Und natürlich wäre es riskant, AfD-Abzeichen bei linken Demos und Antifa-Slogans bei Nazi-Demos zu tragen. Aber erstens ist ein Davidstern persönliche Eigenschaft und nicht persönliche Meinung. Sein Tragen oder Nicht-Tragen unterliegt nicht der Kategorie des „Risikoverhaltens“. Du kannst nicht das Judesein wie ein T-Shirt ausziehen. Jeder, der dir das nahelegt, ist nicht „klug“, sondern grausam. Zweitens: Wenn wir anfangen, freies Verhalten als unklug zu bezeichnen, begeben wir uns auf eine sehr schiefe Ebene. Wir dürfen keine Demokratie-freien Räume haben! Neukölln ist ein Bezirk einer demokratischen Stadt und kein Kiez für ausschließlich kluge Bürger. Unsere Polizei, unsere Schulen, unsere Nachbarn, wir alle müssen dafür sorgen, dass diese Stadt frei und sicher bleibt. Klug oder unklug. Demonstrativ oder nicht.

Selbstverständlich ist es nicht zwangsläufig antisemitisch, solche Gedanken zu entwickeln, wie die aus dem Tagesspiegel. Aber ist es noch demokratisch? Hören wir nicht auf, Demokraten zu sein, wenn wir unsere Empfehlungen an freie Bürger nach Angst vor Demokratiefeinden ausrichten? Erst recht Empfehlungen an Juden nach Angst vor Antisemiten?

Vor vielen Jahren hatte ich Dissens mit einigen Aktivisten, weil ich ihren Aufruf an Juden, Kippa überall in Berlin offen zu tragen, nicht teilte. Damals war ich jüdischer Amtsträger in der Gemeinde und trug Verantwortung für die Sicherheit der Mitglieder in Berlin. Dazu stehe ich weiterhin. Eine Sicherheitswarnung – ja, aber kein Vorwurf und keine Belehrung! Die Opfer der Angriffe müssen wir schützen, nicht über sie urteilen. Und erst recht dürfen wir nicht Verantwortung für Antisemitismus von den Tätern auf die Opfer schieben. Das tut aber im Endeffekt dieser Text. Seit mehr als zweitausend Jahren waren Juden bereit, qualvolle Tode und unmenschliche Verfolgung dafür auf sich zu nehmen, dass sie sichtbar jüdisch blieben. Wir haben einiges überlebt und werden einiges überleben müssen. Auch diesen Text im Tagesspiegel. Aber überlebt solche Texte auch unsere Demokratie?

 

Bild: slgckgc/Flickr (CC BY 2.0)