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Leadership statt Formalismus: Deutschland muss für ein Sondertribunal vorangehen

Hinweis: Dieser Beitrag erschien zuerst am 20. Dezember 2022 auf der Webseite der FAZ. Von Sergey Lagodinsky Benjamin Ferencz war 27 Jahre alt, als er Chefankläger bei einem der Nürnberger Tribunale wurde, dem sogenannten Einsatzgruppen-Prozess. Damals ging es um SS-Verbrechen während der Besatzung der Sowjetunion. Heute ist er 102. Und er will weiterleben: „Ich habe keine Zeit zu sterben, es gibt noch viel zu tun“. Damals ging es ihm um die Verbrechen der Nazis, heute breche es ihm das Herz, dass sich Ähnliches wiederhole. Ferencz und sehr viele, auch mich persönlich, treibt an, dass der Angriff Russlands auf die Ukraine nicht nur ein Verbrechen gegen Menschen, sondern auch ein eklatantes Verbrechen gegen den Weltfrieden ist. Es muss bestraft werden. Das schulden wir den Opfern, das schulden wir uns selbst. Deutschland war, auch bedingt durch die eigene Geschichte, immer einer der Treiber für internationale Strafjustiz. Nun muss Deutschland auch an dieser Stelle zur treibenden Kraft werden: Es wäre das Natürlichste für unser Land, hier voranzuschreiten und die Ukrainer in ihrem Bemühen, Putin und seine Leute zur Verantwortung zu ziehen, zu unterstützen. Bisher hört man hierzu aus Deutschland wenig und wenn, dann nur formalistische Bedenken. Stattdessen brauchen wir auch hier die mutige Führung aus Berlin. Das erwartet man in Brüssel, darauf hofft man in Kiew. Römisches Statut erschwert Verfolgung Eine solche Führung ist bitter nötig. Bereits jetzt untersuchen Staatsanwaltschaften Kriegsverbrechen, es geht wohl um viele Tausende. Der Vorwurf des Genozids steht im Raum. Doch die Ursünde der vergangenen Monate, der Grund für das Unheil, das menschliche Existenzen tilgt und die Weltordnung zu einem Scherbenhaufen deklassiert, könnte ungesühnt bleiben: Der Entschluss der russischen Führung, die Ukraine mit einem Angriffskrieg zu überziehen. Nur die Untersuchung dieses Verbrechens würde uns zu den eigentlichen Verantwortlichen für die neue europäische Katastrophe bringen – dem russischen Präsidenten, dem Außenminister, dem Ministerpräsidenten. Eine starke Führung Deutschlands, wie vieler anderer Staaten, ist auch deshalb nötig, weil die Strafverfolgung der Kriegsaggressoren …

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Das weltweit erste Gesetz zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz!

Als eine der ersten Jurisdiktionen weltweit hat die Europäische Union die Arbeit an einer Regulierung für Künstliche Intelligenz-Systeme begonnen. Nach der erfolgreichen Datenschutz-Grundverordnung schauen Gesetzgeber weltweit genau hin, welche Regeln die EU für KI vorsieht. Als Bündnis 90/Grüne wollen wir Innovation fördern, die Einzelnen und der Gesellschaft zugutekommt. Insbesondere die wissenschaftliche Grundlagenforschung in Europa muss gestärkt werden. Seriöse Entwickler von KI-Systemen profitieren von klaren Regeln und kurzen, unbürokratischen Wegen. Sogenannte KI-Reallabore können Hilfestellung zur gesetzeskonformen Entwicklung geben. Der „AI Act“ verspricht Zukunftssicherheit und genug Flexibilität, um sich von der schnell entwickelnden Technologie nicht abhängen zu lassen. Gerade beim Thema Umweltschutz und Klimakrise hat die Kommission aber eine Chance ungenutzt gelassen. Deswegen schlage ich vor, dass Entwickler schon von Anfang an energieeffiziente Methoden nutzen sollen und Vorkehrungen schaffen, um den Ressourcenverbrauch ihrer Technologie zu erfassen und transparent zu machen. Wenn fast wöchentlich Meldungen über Chatbots erscheinen, die angeblich Persönlichkeit entwickelt haben, denkt man schnell an Science-Fiction-Szenarien. Zurück auf dem Boden der Tatsachen ist KI nach wie vor ein Hype, der Aufmerksamkeit und kostengünstige PR für Firmen und ihre Produkte erzeugt. Oft fehlt den Behauptungen die wissenschaftliche Grundlage oder bestenfalls ist sie bereits vor hundert Jahren widerlegt gewesen. Gemeinsam mit Kolleg*innen der Grünen/EFA will ich deswegen dafür kämpfen, besonders problematische Techniken wie die biometrische Kategorisierung und Emotionserkennung zu verbieten. Wir sind gegen Überwachung in der Schule, am Arbeitsplatz und im Kontext von Migration und Asyl und wollen die systematische Verbreitung von Desinformation und Deep Fakes beschränken. So stärken wir die Grundrechte und schieben Diskriminierung den Riegel vor. Ab dem Sommer verhandelt das Parlament seine Position zur KI-Regulierung. Mit einem Abschluss rechne ich aufgrund der hohen Anzahl von Änderungsanträgen und der kontroversen Punkte aber nicht vor Ende des Jahres. Eine Einigung mit dem Rat der Europäischen Union könnte dann, optimistisch betrachtet, bis Sommer 2023 erfolgen.

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Russia’s Civil Society in Exile: Parliament Talk with Sergey Lagodinsky

Since 2012, Russia’s NGOs and pro-democratic activists have been persecuted by the government. Since adoption of the so called ‘foreign agent’ legislation Russia’s civic space has eroded. With the launch of the Russian war of aggression against Ukraine in 2022, almost all of Russia’s independent civil society consists of ‘foreign agents’, undesirable or even extremist organizations. Many pro-democratic activists have fled the country and went into exile. I met with two of Russia’s leading civil society activists during their visit of the European Parliament in Brussels. We discussed the state of Russia’s civic space against the background of Russia’s aggression against Ukraine and its democracy. Inna Berezkina is a programme coordinator, a contributor and an editor at the School of Civic Education. The mission of the School of Civic Education is to contribute to the development of the Russian civil society. She serves as an advisor at Democracy Without Borders Kirill Martynow is the political editor of Russia’s oldest independent newspaper, the Novaya Gazeta that ceased its publishing activities in Russia on 28 March 2022 in reaction to Russia’s invasion of Ukraine. He now serves as editor-in-chief of Novaya Gazeta Europe.    

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Ein klares Signal an Europa und die Welt

Unser Koalitionsvertrag steht für einen gesellschaftlichen Aufbruch. Keine Sicherheit, aber eine Chance, unsere Gesellschaft bei den großen Herausforderungen unserer Zeit fit zu machen. Er ist die Chance, Fortschritt zu wagen. Ich freue mich, dass die neue Bundesregierung Europa- und Außenpolitik in den Mittelpunkt ihres Wirkens stellt. Die Rolle, die uns Grünen dabei zuteil wird, bedeutet Verantwortung und ist ein Ansporn. Vor allem ist es eine wichtige Chance, das Verhältnis zwischen Verantwortung, Realismus und Werten neu auszutarieren. Der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit kommt dabei eine besonders wichtige Rolle zuteil. Der Vertrag zählt auf, was wir in der Regierung tun und initiieren werden, um die Erosion der Demokratie in der EU zu verhindern. Mit Unterstützung des Europäischen Vereins- und Stiftungsrechts kommt auch eine positive Agenda zum Tragen.

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Daten für Fortschritt, Sicherheit für Daten!

In einem gemeinsamen Autor*innen Papier entwerfen wir Grundlinien für eine grüne Datenpolitik. Wichtig für mich als Rapporteur im Innenausschuss für #DataGovernance: Datenschutz und #DSGVO und #OpenData sind ein Mehrwert, kein Manko für den Standort Europa. Und im globalen Wettbewerb um eine grüne innovative Zukunft werden wir nur bestehen, wenn wir auch in diesem Punkt gemeinsam als Europäer*innen auftreten. Das Strategiepapier finden Sie hier: Strategiepapier „Daten für den Wandel nutzen“.

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Die Kategorie der Freiheit

Im Tagesspiegel vom 1. Juni 2021 erschien der Kommentar von Malte Lehming „Mit Davidstern in der Palästinenser-Demo: Nicht alles, was erlaubt ist, ist auch klug“. Dieser Kommentar bewegte mich zu dieser persönlichen Replik: Was ich im Tagesspiegel lese, ist eine große persönliche Enttäuschung. „Persönlich“ nicht, weil ich den Autor persönlich verurteile. „Persönlich“, weil ich – wie 200.000 andere Jüdinnen und Juden – vor 30 Jahren „persönlich“ entschieden habe, Deutschland zu meiner Zukunft zu machen. Viele von uns fragen sich nunmehr, ob das ein Irrtum war. Warum Deutschland, lautet die übliche Frage. Weil wir überzeugt waren, dass wir, gerade wegen der Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft mit ihrer Geschichte, hier als Juden frei leben könnten. Nicht frei von Antisemitismus (lasst uns realistisch bleiben!), aber frei von Kompromissen. Von Kompromissen, die dir deine Gesellschaft wegen deiner Herkunft auferlegt. Mit Kompromissen bin ich in der UdSSR aufgewachsen: Du kannst dich Jude nennen, aber du sollst nicht demonstrativ jüdisch sein. Du kannst dich Jude nennen, aber du musst besser sein als alle anderen, damit du genauso weit kommst. Besser, aber unausgesprochen besser. Unauffällig besser sein! In Deutschland, so nahmen wir es damals an, wird es anders sein. Nicht wegen weniger Antisemiten, sondern wegen mehr Haltung.

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Daten-Governance

Please click here for English Über den Vorschlag Am 25. November 2020 hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag zur europäischen Daten-Governance, (Data Governance Act, DGA), veröffentlicht. Der Vorschlag folgt auf die Mitteilung der Kommission zur „Europäischen Datenstrategie“ vom Februar 2020. Der Ankündigung der Kommission zufolge ist der DGA der erste einer Reihe von Gesetzvorschlägen, die den Zugang und die Nutzung von Daten in der Europäischen Union regeln sollen. Ich bin der Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die Stellungnahme des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE), der für Fragen des Datenschutzes eine besondere Zuständigkeit hat. Inhalt Der DGA umfasst mehrere Instrumente, die „das Vertrauen in die gemeinsame Nutzung von Daten erhöhen, Mechanismen zur Verbesserung der Datenverfügbarkeit stärken und technische Hindernisse für die Wiederverwendung von Daten überwinden“ sollen, so die Kommission auf ihrer Website. Er soll die Open-Data-Richtlinie ergänzen indem er Daten der Nutzung zugänglich macht, die ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen sind. Das betrifft nicht-personenbezogene Daten in der Hand öffentlicher Stellen, die durch Rechte Dritter geschützt sind, sowie personenbezogene Daten im öffentlichen Sektor. Daneben legt er Regeln für Anbieter von Datenaustauschdiensten (data sharing service providers) fest, die den Datenaustausch zwischen Unternehmen mit und ohne Vergütung ermöglichen sollen, und fördert die Gründung von Genossenschaften, die natürliche Personen und Halter nicht-personenbezogener Daten stärken sollen. Schließlich „Daten-Altruismus“ von Einzelpersonen gefördert werden, indem ein standardisiertes Einwilligungsformular für Betroffene geschaffen und eine neue Organisationsform zur sicheren Verwendung dieser Daten etabliert wird. So sollen Einzelne ihre personenbezogenen Daten für Gemeinwohl-Zwecke zur Verfügung zu stellen können. Außerdem wird eine Struktur von zuständigen Behörden zur Durchsetzung der Bestimmungen und eine Expertengruppe zur Unterstützung der Ziele der Verordnung geschaffen. In ihrer Folgenabschätzung schätzt die Kommission den wirtschaftlichen Wert der kombinierten Maßnahmen auf 3,87% bis 3,95% Wachstum des BIP. Meine Position Wie von Experten aus der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft sowie insbesondere in der gemeinsamen Stellungnahme des Europäischen Datenschutzausschusses und des Europäischen Datenschutzbeauftragten dargelegt wird, hat der DGA erhebliche Auswirkungen auf den Schutz personenbezogener Daten. Als Berichterstatter für den LIBE-Ausschuss mit seiner besonderen …

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Kooperation mit roten Linien – die Grundregeln

Immer wieder höre ich den vorwurfsvollen Einwand: Wir müssen aber mit Russland, wahlweise Türkei, wahlweise Saudi-Arabien (und und und) kooperieren. Dazu sage ich: Keiner fordert, dass wir es nicht tun sollen. Die Frage ist, unter welchen Vorbedingungen. Keine Werte ohne Kooperation, aber auch keine Kooperation ohne Werte Ja, auch eine wertegeleitete Außenpolitik ist keine Außenpolitik im Vakuum. Wir leben in einer globalen Welt voller gegenseitiger Abhängigkeiten. Und auch Kooperationsbereitschaft selbst ist ein Wert an sich. Entsprechend dieser Tatsachen sind Länder, die nicht unsere Werte teilen, unsere gelegentlichen oder gar dauerhaften Partner. Aber wir dürfen nicht ohne Kompass durch die Weltgeschichte irren. Wie bringen wir beides, die Notwendigkeit der Kooperation und die Werteorientierung, zusammen? Die Lösung besteht darin, dass wir Kooperationsbereitschaft mit roten Linien kommunizieren und praktizieren. Dadurch sind eigene Prinzipien bewahrt, und Erwartungen an andere klargestellt.

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Biden in Sicht: Was muss sich im transatlantischen Tech-Dialog ändern?

Darüber sprach ich mit Expert*innen beim transatlantischen Briefing on the Upcoming Biden Administration’s Priorities for Transatlantic Tech Policy, einem Panel der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Meine Prognose: Die Tonalität wird sich ändern und auch die Art der Zusammenarbeit – weg vom transaktionalen Bilateralismus hin zum institutionellen Multilateralismus. Allerdings werden zwei transatlantische Hürden bleiben: unterschiedliche Schwerpunkte bei den Interessen und Kapazitäten sowie die unterschiedlichen regulatorischen Kulturen. Das europäische Misstrauen gegenüber der US-Digitalpolitik hat nicht erst unter Trump angefangen. Seit 2013 bringen die Snowden-Enthüllungen sogar die treusten Transatlantiker*innen ins Grübeln. Auch die Übermacht der digitalen US-Konzerne sorgt für ein andauerndes Interessengefälle zwischen Washington und Brüssel. Beide Probleme, das digitale Misstrauen und das digitale Machtgefälle werden Trumps Regierungszeit überdauern. Doch jedes Gerede von einer digitalstrategische Äquidistanz zwischen China und den USA ist genauso unrealistisch. Denn unsere gemeinsamen demokratischen Werte verpflichten uns zur Zusammenarbeit. Unser strategisches Ziel müssen globale Standards sein. Dafür brauchen wir die kritische Masse am gemeinsamen Markt- und Innovationsgewicht. Sie können wir nur gemeinsam erreichen.

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