Nie wurde die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Europäischen Union so auf die Probe gestellt wie in den letzten Jahren. Die Erosion der Rechtsstaatlichkeit in Teilen der EU kam zuletzt beim Urteil des polnischen Verfassungstribunals zum Ausdruck. Die politisch ernannten – und damit nicht unabhängigen – Richter des Tribunals entschieden, dass polnisches Recht Vorrang vor europäischem Recht habe. Nach der mindestens undemokratischen Justizreform in Polen stellt das Urteil einen erneuten Angriff auf die EU durch die polnische Regierung dar.
Auch in Ungarn steht die Rechtsstaatlichkeit anhaltend unter Druck. Spätestens während der CoronaPandemie wurde die Medienfreiheit stark begrenzt und der Zugang zu unabhängigen Informationen ist in Ungarn heute schwerer denn je. In Kombination mit einer von der Regierung abhängigen Justiz, keinen justiziellen Möglichkeiten für Kontrolle der Exekutive und dem Willensmangel Orbáns und seiner Fidesz-Partei, ihren rechtsstaatlichen Verpflichtungen nachzukommen, wird daraus ein gefährlicher Cocktail für die Wahrung eines einheitlichen Europas.
Die bisherigen Bemühungen des Parlaments, gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags den Rat zu Sanktionen zu animieren, haben jahrelang nicht gegriffen. In diesem Kontext hat sich Artikel 7 leider als zahnloser Tiger erwiesen, nicht zuletzt weil für seine Anwendung alle anderen Mitgliedstaaten die Sanktionierung eines Mitgliedstaates beschließen müssen. Eine Situation wie die derzeitige, in der gleich mehrere Staaten gleichzeitig Demokratie- und Grundrechteabbau betreiben, wurde nicht bedacht. Auch die Kommission scheint den in 2020 in zähen Verhandlungen eingeführten Rechtsstaats-Konditionalitätsmechanismus nicht anwenden zu wollen, um autoritäre Regierungen wie in Polen und Ungarn zu sanktionieren. Daher habe ich mich entschieden, die vom Parlament bereits angedrohte Untätigkeitsklage gegen die Kommission endgültig auf den Weg zu bringen.
Als Hüterin der Verträge hat die Kommission nun die Chance, ja die Pflicht, die Regierungen von Polen und Ungarn, die auf Kosten aller die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit untergraben, zur Rechenschaft zu ziehen und EU-Gelder temporär zurückzuhalten. Um den demokratischen Geist der EU zu bewahren muss heute, nicht erst morgen oder übermorgen, gehandelt werden. Denn die Taten von heute sind die Erfolge von morgen, die wir so dringend brauchen.